Die Alten und die Falten

Im Februar 1994 schrieb ich für eine TV-Programmzeitschrift eine Kolumne mit dem Titel Die unsichtbare Hand. Auf dem Foto, das neben dem Text erschien, sehe ich mich mit 49 Jahren, mit zukunftsorientiertem, forschem Blick, kräftigem Haarwuchs, imposantem Schnauz und - abgesehen von zwei horizontalen Stirnrunzeln - faltenlosem Gesicht. Aus meiner heutigen Sicht so richtig jung. Ich schrieb damals, dass ältere Männer am Schweizer Fernsehen durchaus ein eingeführtes Produkt seien, ganz im Gegensatz zu den reifen Frauen, die es nie schaffen, moderierend die 50er-Grenze zu überschreiten. Es sei wie verhext, eine unsichtbare Hand - ich hätte damals natürlich schreiben sollen eine unsichtbare Männerhand - hole sie alle mit unglaublicher Konsequenz vom Bildschirm.

In anderen Ländern gibt es die Grand Old Ladies: reif, intelligent, selbstsicher, lebenserfahren, schön. Bei uns sind die Moderatorinnen schön, intelligent, aufgestellt und jung. Und wenn sie lebenserfahren, reif, grauhaarig und faltig werden sind sie plötzlich weg. Am Schluss stellte ich die Frage: Noch lange?

Heute 14 Jahre später - am Fernsehen pensioniert, im so genannten Ruhestand, eine Bezeichnung, die blöder nicht sein kann - werde ich häufig zu Podiumsdiskussionen als Moderator eingeladen, zu Themen wie Ist Alter eine Krankheit? - Tabuthemen in der Demenzbetreuung - Die Altersrevolution. Meistens kommen viele interessierte, neugierige, unternehmungslustige, kompetente, und in der Mehrheit ältere Frauen und Männer zu diesen Veranstaltungen. Gelegentlich sind die Hotelsäle oder Universitätshörsäle zu klein für den Ansturm.

Die revolutionäre demografische Entwicklung in den westlichen Industrieländern mit einer ständig steigenden Lebenserwartung und sinkenden Geburtenzahlen ist neben der Klimadiskussion wohl das derzeit brisanteste und ungelöste Problem der Zukunft. Wenn sie noch mit der Migrations- und Integrationsfrage verknüpft wird, ist die Thematik nicht nur brennend sondern geradezu explosiv. Die Tatsache, dass ein heute in der Schweiz geborenes Kind mit grosser Wahrscheinlichkeit 90 Jahre alt wird, muss zu neuen Denkmodellen und zu einem Umbau der Gesellschaft führen. Theoretisch und Praktisch. Gesamtgesellschaftlich und individuell. In 30 Jahren wird die Zahl der 65-Jährigen und Älteren höher sein als die Bevölkerung im Alter zwischen 15 und 64 Jahren, die heute noch als die erwerbstätige Bevölkerung bezeichnet wird. Das wird nicht nur optisch - im Strassenbild, in der Werbung, im Spital - zu einem fundamental andern Bild der Alten und des Alters führen. Die Fortschritte bei Bildung, Hygiene, Ernährung, Lebensstandard und Medizin haben dazu geführt, dass die heute 70-Jährigen wie die 60-Jährigen der vorherigen Generation zwäg sind.

Eins ist klar, diese über 65-Jährigen - also wir - werden nicht einfach zittrig, desinteressiert, passiv, meinungslos, Hilfe suchend und sparsam auf dem Ofenbänkli sitzen und auf den Tod warten. Sie und wir werden etwas unternehmen, mit viel Selbstbewusstsein und einem Rucksack voller Erfahrung - genährt auch durch schwierige Situationen und Verlust. Das dritte Alter wird zur neuen, spannenden Herausforderung. Das Leben ist immer noch faszinierend und intensiv, ganz im Sinne des weltberühmten Cellisten Pablo Casals, der auf die Frage, warum er mit dreiundneunzig Jahren immer noch täglich vier bis fünf Stunden auf seinem Cello übe, antwortete: Wozu? Weil ich den Eindruck habe, ich mache Fortschritte.

Vor kurzem ist mir wieder ein Interview in die Hand gekommen, das die Journalistin Regula Freuler mit der Schriftstellerin Isabelle Allende führte. Dürfen schöne Frauen älter werden? Die 66-jährige Chilenin antwortete u. a.: In unserem Flugzeug befanden sich zwei venezolanische Schönheitsköniginnen. Alle starrten sie an, ich auch. Manchmal gibt es auch Männer, Athleten, die wie perfekte Beispiele der menschlichen Rasse aussehen. Ich bewundere diese Leute, frage mich aber, was mit ihnen geschieht, wenn sie ihre organische Schönheit verlieren... In den USA muss man sehr jung sein, grosse Brüste und lange Beine haben. Darum unterziehen sich die Leute der plastischen Chirurgie, bis sie aussehen wie eine Maske.

Dem stetig älter werdende Mann und der älter werdenden Frau stellen sich heute und morgen viele Fragen. Um die bedrückende Tatsache zu erörtern, dass viele alte und hochbetagte Menschen, die sich der biologischen Altersgrenze von 120 Jahren nähern, mit Gebrechen, Demenz und Armut kämpfen müssen, reichen diese Zeilen - in einer Spitex-Zeitung - nicht. Alte Menschen haben viele Gesichter und Geschichten.

Ich komme zurück zur Ausgangsfrage: Wie lange noch werden ältere, kompetente, neugierige, rüstige Männer und Frauen von der Gesellschaft und Wirtschaft dafür bestraft, dass sie dem konformen Schönheitsbild der Jugend nicht mehr entsprechen, weil sie faltiger, gelassener und langsamer geworden sind. Müssen nun alle zum Plastischen Chirurgen? Und wenn sie aussen wieder jung sind, zum Herzchirurgen? Heisst die Lösung Jugendwahn? Wird der Botox-Druck auf die, den Einzelnen immer stärker? Wohl nicht. Heisst die Lösung: Action? Wohl auch nicht. Jedenfalls nicht nur. Der Karrieredruck, der Druck des unbedingten Gefallen-Müssens ist weg. Viel eher wird es eine Kombination von Aktion und Kontemplation, Sport und Spiritualität sein. Mit vielen individuellen Freiheiten und Gestaltungsmöglichkeiten. Die Grossmutter mit den Tigerleggings, der Grossvater auf der Harley-Davidson. Warum nicht, solange sie mit den Enkelkindern spielen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, sehen sie eines schönen Tages eine TV-Sendung mit einer schönen, attraktiven, grauhaarigen Moderatorin mit Falten und Weisheit.

10.03.2008 Ueli Heiniger - erschienen in: Schauplatz Spitex; April 2008

 
 

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